Tantra als spirituelle Praxis
Aus dem kleinen Ich (dem Ego) heraus ist nur begrenzt Veränderung möglich. Deshalb bleibt dem Glückssuchenden nichts anderes übrig, als sich in demütigem Vollzug dem Größeren (dem Leben, dem Göttlichen, dem Unsagbaren) anzuvertrauen. Diesen Vorgang nennen die Religionen Gebet. Das innere Gebet bedarf aber nicht der bestimmten Form einer Religion. Es wird sowieso immer mehr in die Formlosigkeit weisen und zur Formlosigkeit werden. Zu Beginn ist die in inneren Worten gesprochene Anbindung nötig. Sie wird immer wieder und immer mehr auch der wortlosen Meditation weichen. Bei tantrischen Ritualen wird der Zugang zu dieser Quelle der Veränderung bewusst geschult. Tantra ist keine Religion und vertritt auch keine religiöse Richtung. Jeder Mensch betritt diesen inneren Raum auf seine Art. Das Intimste, was in Tantra Begegnungen möglich ist, ist ein einander offenbartes inneres Gebet und nicht unbedingt die sexuelle Gipfelerfahrung.
"Wo beides jedoch zusammenfließt, Himmel und Erde, Heiligkeit und Lust, Meditation und Sexualität jubelt die befreite Seele."
Tantra als Selbsterkenntnis
Wer so weit gegangen ist, erlebt zeitweilige oder anhaltende Erleuchtung. Erleuchtung ist nichts anderes als ein Wiedererkennen dessen, was ewig unveränderlich ist: die reine, unzerstörbare, heilige, göttliche Essenz im Inneren. Dabei gibt es keinen Unterschied mehr zwischen der Selbsterkenntnis und der Gott-Erkenntnis. Die Einheit, das urspüngliche Ziel, ist verwirklicht. Das Leben pulsiert in göttlicher Reinheit. Nichts ist getrennt oder anders. Illusionen haben keine Macht mehr, die Seele zu binden. Sie befindet sich im freien Flug. Hier gibt es keine Worte, keine Vorstellung, keine Bilder mehr. Im Gewahrsein ist nur noch Glückseligkeit hinter und in allen Formen. Tantrarituale beginnen und enden mit einer Einladung dieser Göttlichkeit, egal, ob die Verbindung schon gefühlt werden kann oder die Sucher noch im Dunkeln tappen. „Namasté – Ich grüße das Göttliche in dir!“ Je nachdem, was jemand im Tantra sucht, bleibt diese Formel leer oder sie wird höchst erfüllend, nämlich dann, wenn das Gesagte erlebt und gefühlt wird. Dann öffnet sich ganz still – manchmal beseligend lustvoll - für einen Augenblick das Tor zu Heiligkeit. Ein einziger Augenblick ist genug. Mehr ist niemals nötig. Warum nicht dieser Augenblick? Jetzt? Namasté, lieber Leser, liebe Leserin, ich grüße das Göttliche in Dir!“
Ein Artikel von Regina Heckert, erschienen im Connection-Magazin