Shiva begegnen
Manchmal stellen sich mir alle Haare des Berührtseins, wenn die Frauen eines Seminars sich gemeinsam tief vor den anwesenden Männern verneigen, um diese Würdigung auszuprobieren. Oft sind sie von Tränen überströmt. Sie begegnen Shiva ganz: den kleinen, den großen Männern, den alten und den jungen, den dicken und den dünnen, allen Männer ihres Frauenlebens, dem Vater, den Söhnen und Enkeln, den verstorbenen, lebenden und noch ungeborenen Männern. Auch hier gilt: Kein Mann darf fehlen, sonst ist das große Männerherz nicht vollständig.
Jede Frau, die den äußeren Mann auf diese Weise achten und lieben gelernt hat, hat damit automatisch ihre inneren männlichen Anteile integriert. Jetzt steht ihr selbst ein Lingampferd zur Verfügung, damit sie den Ritt durch ihr Leben aktiv lenken und mitgestalten kann. Jetzt wird sie frei über den Tellerrand der Männerverachtung hinauszuschauen in die Weite.
Namasté birgt aber noch ein tieferes Potential. Indem die Geschlechter aufhören, einander zu bekämpfen und ihre Andersartigkeit als Ergänzung und Wachstumsmöglichkeit zu immer größerer Liebe erkennen, öffnet sich die spirituelle Dimension: Ich liebe das Göttliche in Dir. Das ist eine gängige Übersetzung des tantrischen Grußes. Manche leiern diesen Gruß einfach so dahin.
Das ist auch der Grund, warum ich nicht so gerne vorgegebene Grußformeln in meinen Seminaren verwende. Wer von uns hat schon gelernt, das Göttliche in einem anderen Menschen zu erahnen, zu sehen, zu grüßen? Wenn wir einander wahrnehmen, beginnt automatisch das Urteilen, Verurteilen und das aneinander Herumkritisieren. Die körperliche Erscheinung wird gecheckt und mit einer momentan gültigen Schönheitsnorm verglichen. Daraufhin wird jemand als attraktiv oder uninteressant eingestuft. Dann kommen noch die Verhaltensweisen und die Meinungen der anderen dazu. Der Verstand findet immer etwas, was nicht stimmt. Deswegen kann er auch nicht das Göttliche im anderen grüßen. Er weiß gar nicht, dass es da ist und will es auch nicht wissen. Ein echtes Namasté kommt aus dem Nicht-Verstand. Deshalb geht ihm in der Regel eine Meditationsphase voraus, wo wir uns mit tieferen Seinsqualitäten verbinden. Dann schauen wir nicht mehr mit den Augen des Körpers aufeinander, sondern mit dem Herzen. Geradewegs an den Urteilen des Verstandes vorbei führt uns die Reise zunächst ins eigene Innere. Sind wir dort angebunden und verbunden stellt sich die neue Sicht von selbst ein. Für mich ist deshalb die Meditation ein fester Bestandteil meines Alltags geworden. Auch nach jahrzehntelanger Praxis hat der Verstand noch nicht aufgegeben, die Führung über meine Tage und Stunden einzufordern.