Mut zur Wahrheit als Eintrittskarte
Auch wenn der Begriff Polyamorie sehr jung ist, sind doch in allen Kulturen und Zeiten Beispiele zu finden, wo Menschen Liebesbeziehungen zu mehr als einem Partner gleichzeitig geführt haben. Auf heimliche Weise geschieht dies sowieso überall. Polyamouröse jedoch legen Wert auf das Einverständnis aller an der „geteilten“ Liebe Beteiligten. Der Mut zu Wahrheit und Ehrlichkeit ist deshalb die notwendige Eintrittskarte in diese Welt jenseits der Norm. Die Auseinandersetzung aller Beteiligten fordert Zeit und Bereitschaft, sich mit den turbulentesten Gefühlen auseinanderzusetzen. Permanenter Großeinsatz ist vonnöten. Die mutigen Versuche, die hohen Ideale und Anforderungen der Polyamorie zu erfüllen, lassen die Pioniere der Wahrheit und der sexuellen Selbstbestimmung demgemäß fast unablässig zwischen Lebensgefahr und Erleuchtung schweben.
Mehrere Beziehungen? Zu aufwändig
Wenn ich in meine polyamouröse Zeit zurückblicke, habe ich manchmal den Eindruck, dass sie als Auszeit und Schulung, ja sogar als Luxus mein Leben bereichert hat. Heutzutage könnte ich diesen Aufwand an Zeit und Energie gar nicht mehr aufbringen. Jedenfalls nicht, wenn ich gleichzeitig meine Tantraschule mit allem, was dazu gehört, leiten und erweitern will. Ich hätte diese Zeit nützen können, um die Eifersucht zu meistern. Das habe ich nicht geschafft. Sie war eindeutig eine Nummer zu groß für mich. Man muss sich nicht nur die Medienberichte von Mord und Totschlag vor Augen führen, um zu erkennen, dass Eifersucht lebensgefährlich ist. Nicht selten bin ich unter wahrer Todesangst von einem Partner zum anderen gewechselt. Sicherlich ist die sexuelle Befreiung einer Frau im Vergleich mit der eines Mannes weltweit gesehen eindeutig die gewagtere Variante. Ich habe erlebt, wie unkontrolliert ein Schemel durch den Raum gepfeffert wurde. Mehrmals habe ich um mein Leben gebangt. Trotz tosender Eifersucht hat einer der Männer immer wieder versucht, über sich hinauszuwachsen. Er hat für uns alle drei Frühstück bereitet, während ich im Nebenzimmer eine lange Liebesnacht mit einem anderen Mann ausklingen ließ.
Bei Prüfungsvorbereitungen lieber treu
Schließlich habe ich zugestimmt, als Fisch im Wasser zu schwimmen und das Fliegen den Vögeln zu überlassen. Tatsächlich habe ich ein zweites Mal geheiratet: Im stattlichen Alter von vierundvierzig Jahren gab ich als Tantralehrerin in weißem Kleid in der Kirche das Ja-Wort. Diesmal habe ich neben der Ehrlichkeit auch die sexuelle Treue versprochen. Natürlich hatte ich diese zuerst ausgiebig vorher erprobt. Ausschlaggebend war meine Einsicht, dass es unmöglich ist, Eifersuchtslektionen und Prüfungsvorbereitungen zu kombinieren. Nur eines von beiden konnte gelingen. Mehrfach hatte ich schmerzlich am eigenen Leib erfahren, dass ich unter Einfluss von Eifersucht kaum in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen – von konzentriertem Arbeiten ganz zu schweigen! Deshalb verzichtete ich während einer Prüfungsvorbereitung großherzig drei Monate lang auf die mir so lieb gewordenen Dokumentationen meiner sexuellen Freiheit. Das fleißige Herumturnen an den Abgründen des Menschenmöglichen stellte ich ein. Ronja Räubertochter hatte sich im Namen der Freiheit zwar einige Verletzungen zugezogen, war aber nicht in den todbringenden Höllenschlund gestürzt. Seit nunmehr über zehn Jahren bin ich eine treue Ehefrau geworden. Sogar meine sexuelle Fantasie hält sich zu meinem eigenen Erstaunen daran, treu zu sein.
Familienbann gebrochen
Heute weiß ich, dass die Irrfahrten des Odysseus geleitet und gelenkt werden von den Strömungen der Lebensgeschichte und des Familiensystems. Meine mangelnde Beziehungsfähigkeit konnte durch die Festhaltetherapie nach Jirina Prekop wiederhergestellt werden. Eine frühkindliche unterbrochene Hin Bewegung hatte eine dauerhafte Bindung verhindert. Kaum war diese „repariert“, wartete schon der nächste familiäre Auftrag auf seine Umsetzung. In meinem Familiensystem gab es weder in der Mutter- noch in der Vaterlinie eine Frau, die in weißem Kleid kirchlich heiraten konnte. Die einen durften nicht, da sie uneheliche Kinder hatten, die anderen hatten kurz vor der Hochzeit Todesfälle zu betrauern. Da verbot es die Norm, in Weiß zu heiraten. „Ich heirate einmal in Weiß, selbst wenn es erst mit 81 Jahren ist!“ pflegte ich zu verkünden. Der Familienbann der Frauen ist nun durchbrochen. Ich habe es gerne getan.
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