Innehalten
Um zu lernen, aus dem Verstand heraus immer wieder in die Freiheit der Gegenwart abzuspringen, braucht es nicht viel: Es reicht die kleine Bereitwilligkeit, mitten in jedwedem Geschehen einfach für eine kleine Weile innezuhalten. Auch im Bett, auch kurz vor „seinem“ Höhepunkt, falls die Göttin es verlangt: wenn zum Beispiel ihr Blick der Liebe und Verbundenheit den Liebsten nicht mehr erreichen kann.
Innehalten - das kann geübt werden. Und darin sehe ich auch die Hauptaufgabe eines tantrischen Weges: den Weg in die Gegenwart zu weisen und zu zeigen, wie man sich dort dauerhaft verankern kann. So wird allmählich das Korsett durchlöchert, bis es ganz abfällt. Den ganzen Tag über – wenn auch nur für Sekunden – dem Gedankenlärm immer wieder klitzekleine Lücken abtrotzen. In so einer Verstandes-Lücke zu sein bedeutet, für eine Weile nicht mehr zu wissen, wo es lang geht. Viele Menschen fürchten deshalb diesen Zustand des Nichtwissens. Unsicherheit erleben sie als peinlich, dabei ist sie die wichtigste Tür zur Wahrheit. Viele flüchten lieber zurück in die sicher erscheinenden Gefängniszellen des Verstandes.
Doch nur ein gedankenleer gehaltener Raum gibt der Göttin eine Chance, um ihre klugen Impulse spürbar nach außen zu funken. Wer in die Lücken hinein horcht und lauscht, bekommt Verbindung zur tieferen Weisheit jenseits der Gedankenschleifen. Die nicht-konditionierte Intelligenz kann aufsteigen und die Regie übernehmen. Sie ist heilsam für alle Beteiligten. Das Korsett ist in diesem leeren Raum einfach nicht mehr vorhanden. Deshalb ist die Befreiung vom Verstand die einzig wahre Befreiung, die es gibt.
Unterbrechungen im Strom der Gedanken mitten in den Turbulenzen des Alltags zu üben, ist zudem die sinnvollste und heilsamste Sache der Welt. Wenige Sekunden genügen manchmal schon.
Eine Weile wird man Hin- und Herpendeln zwischen Korsett und Freiheit, bis es natürlich geworden ist, sich dauerhaft in der Gegenwart aufzuhalten. Dann ist die Spaltung zwischen Göttin und irdischer Frau überwunden, denn die Göttin lebt nun jeden Augenblick in und durch die irdische Frau jenseits des Denkens. Sie sind eins geworden – schlicht, einfach, natürlich:
Himmelblaue Wochen
„Obwohl diese Liebesbegegnung schon so lange her ist, erinnere ich mich an jedes ihrer zauberhaften Details, zum Beispiel wie ich in meinem verwaschen blauen Leinenkleid die breite, staubige Straße hinunter hüpfte. Schon wieder so ein makellos sonniger Tag. Frei und glücklich genoss ich es, in einem Seminarzentrum in Kalifornien Himmel blaue Wochen verbringen zu dürfen. Ein Lächeln umspielte meine zweiundvierzig jährigen Lippen.
Da tauchte die Silhouette eines Mannes auf, der mir von weit unten entgegenkam. Mit jedem seiner Schritte schälte er sich mehr aus der Verschwommenheit der Ferne heraus. Irgendetwas in mir zwang mich zur Langsamkeit. Gut sah er aus und meine Beine stellten um auf Schneckentempo. Wir liefen direkt aufeinander zu, jetzt fast in Zeitlupe, bis wir - zwei völlig Fremde - voreinander zum Stehen kamen. Mein Verstand verfiel für einen Augenblick in Schockstarre und rang nach Worten. Doch da lächelte mir schon ein freundliches „Hallo!“ entgegen, das ich etwas ungeschickt erwiderte. Ohne Worte schauten wir uns an. Wer als erstes die Fassung wieder fand, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls huschte ein kleiner Smalltalk zwischen uns hin und her. „Wir könnten uns heute Abend bei der Disco treffen!“ meinte er schließlich und entließ mich aus dem süßen Bann.
Ich hüpfte beglückt weiter, bis ich die Rezeption erreicht hatte, wo ein Fax für mich angekommen war. Es verkündete die Trennung von meinem Liebsten zuhause, der nicht länger bereit war, meine sexuellen Freiheitsanwandlungen hinzunehmen.